Wohl kaum ein anderer Weinmacher im Rheingau erzeugt derzeit Weine mit einem derart persönlichen Profil wie Achim von Oetinger. Ein anstrengender, schwieriger, faszinierender Weg in Richtung Spitze
Wenn sich ein Winzer, der keine Mühen scheut und mit beinahe schon archaisch anmutenden Methoden wie besessen daran arbeitet, das qualitative Optimum aus seinen Weinbergen herauszuholen, selbst als „bequem“ bezeichnet, wird man hellhörig. Achim von Oetinger wirkt denn auch alles andere als gemütlich, wenn er von seiner Arbeit erzählt. „Meine wichtigsten Mitarbeiter sind genauso geisteskrank wie ich“ – ein weiteres Statement, das für jene (Wein)Besessenheit steht, die hier an der Tagesordnung ist.
Der junge Achim hatte allerdings keine Lust zu studieren, sondern ließ die Dinge auf dem Weingut treiben und wurde nach eigenem Bekunden nur aus Bequemlichkeit Winzer. Warum nicht einfach weiter machen, was die Altvorderen so hübsch eingerichtet haben? Der Vater hatte ein neues Betriebsgebäude auf der grünen Wiese gebaut und während die Weine seines Onkels, des „alten Oetinger“, immer schlechter wurden, ging es mit dem „jungen Oetinger“ bergauf. Eine wichtige Rolle spielte dabei die zugehörige Gastronomie, denn deren zunehmend bessere Küche zog wie von selbst die Besucher an und die verließen das Haus selten ohne Kisten voller Wein im Kofferraum. Nachdem bereits einige Weinberge veräußert waren, kaufte der Junge schließlich die Reste des Alten auf.
Hier nimmt die Geschichte von Achim von Oetinger Fahrt auf, denn er hatte irgendwann schlicht keine Lust mehr, dem Mainstream zu folgen. Wo man lange Haare trug, war bei ihm Kahlschlag angesagt, antizyklisch nennt er seinen Lebensstil und so hält er es auch bei den Weinen. Nach dem Tod des Vaters ging es für ihn ohne Studium oder Fortbildung geradewegs in den Betrieb, doch zunächst sollte nur ein Teil der Produktion behutsam auf seine neuen Ideen umgestellt werden. Was zu den auch bei anderen „Revoluzzern“ in der Weinbranche bekannten Problemen zwischen Stammkundschaft, insbesondere Kunden aus Gastronomie und Handel, und Erzeuger führte. Doch wer jetzt annimmt, Achim hätte sich nun allmählich den Umständen gefügt, schätzt ihn falsch ein: von Oetinger setzte alles auf eine Karte, änderte den Stil seiner Weine – und verlor auf einen Schlag beinahe 1.000 Kunden. Die Gastronomie wurde verpachtet, um sich zu 100% den Reben widmen zu können. Die Bank machte zwar mit, doch die Kunden blieben zunächst aus, blieb zögerlich, sämtliche Ersparnisse flossen in das Projekt und es dauerte ganze acht Jahre, bis sich auf einen Schlag alles änderte. Da hatte von Oetinger seine Weinphilosophie nochmals konsequenter durchdacht und seine Weine einem der bedeutendsten europäischen Weinkritiker auf einer Messe zur Verkostung gegeben: Stuart Pigott war begeistert, der Messestand quoll über vor neugierigen Kunden – der Durchbruch war geschafft.
Doch was macht von Oetingers Weine so einzigartig? Alles beginnt natürlich im Weinberg, wo die sogenannte „grüne Ernte“, die Reduktion der Menge durch das herausschneiden noch grüner Trauben, bereits eine Selbstverständlichkeit ist. Eine Traube pro Trieb bleibt hängen, diese wird nochmals geteilt, damit die Beeren nicht zu kompakt stehen. Durch das Abknipsen der Traubenspitze wird diese lockerbeerig, was am Ende deutlich intensivere Geschmacksnoten im Wein ergibt. Entblättert wird einseitig auf der sonnenabgewandten Seite, um Sonnenbrand zu vermeiden. In den Toplagen wird alles von Hand erledigt und hohes Risiko zu fahren ist von Oetinger ja schon gewöhnt: „Wir hatten ein Jahr, in dem es nach langer Trockenheit regnete. Die Trauben saugten sich voller Wasser und einzelne Beeren platzten direkt am Weinstock. Dann kam der Schimmel. Wir sind mit Mann und Maus in die Weinberge und haben jede einzelne Beere, die irgendwie problematisch aussah, aus der Traube herausgepickt. Eine brutale Arbeit, die sich aber gelohnt hat.“ Nicht die einzige Geschichte, die schon beim Zuhören Gänsehaut macht.
High Tech spielt bei von Oetinger kaum eine Rolle. Den Oechsle-Grad messen? Er geht lieber täglich durch seine Weinberge und beißt hier und da in eine Traube – der perfekte Reifegrad erschließt sich ihm über den Geschmack, nicht über Daten. Sind die Trauben im Weingut, wird nicht mit Maschinen, sondern wie vor tausenden von Jahren mit den Füßen eingemaischt und dann bleiben Maische und Saft oft bis zu 10 Tage beieinander. Die Jungfernbeeren werden gesondert gelesen, per Hand abgezupft und mit vergoren. So wird nicht der Ist-Zustand, sondern der in ein paar Jahren perfektioniert: Es entstehen langlebige, komplett durchgegorene Weine mit feinen, appetitlichen Bitternoten – Reinzuchthefen haben Hausverbot. „Ein Süßeschwänzchen im Wein ist wie Crème Fraîche in der Sauce – es kaschiert. Trockenen Wein zu machen ist eine Kunst!“ Ruhen die jungen Weine einmal im Tank, so entstehen in von Oetingers Kopf bereits die ersten Ideen für Cuvees. Und das kann sich hinziehen. Oder auch mal spontan ausbrechen. Da muss der Kellermeister auch mal mitten in der Nacht ran, weil ein genialer Einfall auf Tauglichkeit erprobt werden will. Frühestens nach einem Jahr werden dann die ersten Weine gefüllt, bei den Großen Gewächsen wartet man bis zu drei Jahre, bevor diese in den Handel gehen.
Die Ergebnisse sprechen nicht nur im Glas für sich: Im Gault Millau machte das Weingut den Sprung von null auf vier Trauben und die Gastronomie steht heute Schlange, um sich ein paar Flaschen der besten Lagen zu sichern. Die haben natürlich angesichts solch absolutem Qualitätsstreben ihren Preis, doch das kümmert Achim von Oetinger überhaupt nicht. „Ich nerve meine Mitarbeiter vielleicht ab und an, aber es geht mir wirklich immer um die perfekte Traube. Es gibt diesen Moment, wenn der Wein beginnt zu strahlen, als wenn die Sonne am Horizont aufgeht. Darum geht es mir bei allen Weinen!“ Das erzählt der so kantige wie sympathische Weinmacher in seinem zweiten, manchmal auch ersten Wohnzimmer, denn sein Verkostungsraum ist kein pompöser Glaspalast, sondern ein gemütlich eingerichteter Raum mit ein paar Kisten Wein am Rand und großem Tisch für Verkostungen und Gespräche. Wie quer dieser Mann denken und zum Ziel kommen kann, zeigt sich auch an seinem Müller-Thurgau, der kürzlich wieder zum Besten der Republik gekürt wurde. Oder daran, dass er als erster einen trockenen Grauburgunder im Rheingau erzeugte. Große Gewächse als erster mit Schraubverschluss abfüllte, was ihm einen ordentlichen Shitstorm einbrachte. Es gibt vieles, womit Achim von Oetinger ins Schwarze getroffen hat und dennoch bleibt für ihn jeden Tag eine neue Herausforderung, die er scheinbar gelassen annimmt. Die Begegnung mit seinen außergewöhnlichen Weinen ist jedenfalls eine ganz persönliche!
©Foto: Hans Renner